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    DER MYTHOS VOM GRAL

     

    Heiliger Trevrizent – Parzival erwacht im neunten Zeichentrevri-klein

    von Gabriele Quinque

    Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren,
    den rüstet er mit überird´scher Macht.
    - Richard Wagner, Lohengrin

    Nachdem Parzival von der Fluchbotin Kundrie im Beisein von König Artus sehr nachdrücklich für sein Unvermögen gerügt wurde, verlässt er den Hofstaat und die Rittertafel, um als Ritter durch die Lande zu ziehen. Noch im Aufbruch leistet er sein Gelöbnis, das ihn für immer an den Gral bindet: “Ob nah oder fern die Stunde sei, in der mir vergönnt sein wird den Gral wiederzusehen, bis dahin werde ich keine Freude mehr finden. Zum Gral gehen alle meine Gedanken. Nichts wird mich mehr davon abhalten, solange ich lebe!”

    Die Aventüre berichtet, er habe danach zu Pferd viele Länder durchstreift, sogar zu Schiff viele Meere befahren. Aber durch Kundrie ist sein Interesse an der äußeren Welt erloschen. Wir ahnen es, er ist auf der Suche nach dem Gral, aber diesen, so heißt es, kann kein Mensch erfolgreich aufspüren, der Gral lässt sich nur durch höhere Fügung finden. Wie jemand, dem die Augen für das Sehen seiner eigenen Unvollkommenheit aufgegangen sind und der nun die Freude an seinem Dasein verloren hat, wendet sich Parzival von Gott ab und irrt planlos umher. Außen handelt er wie ein Ritter und erlangt sogar Ruhm und Ehre, in seinem Herzen jedoch herrscht kalter Tod. Sogar sein Schwert zerbricht an einem irdischen Kampf, aber in der Quelle von Lac Karnant wird es wieder zusammengefügt. Allein darin liegt schon die Verheißung seiner Erwählung zum Hüter des Grals. Doch muss er zuvor die dunkle Nacht der Seele durchwandern. Wie jeder Mystiker hat er durch die initiatische Nacht zu schreiten und eine langwierige Metamorphose auszuhalten, in der tatsächlich nichts mehr klar und einfach ist. Im Skorpionprinzip erleidet er diese innere Fäulnis und Schwärzung als alchemistische Putrefaktion, die ihn allmählich für wahre geistige Belehrungen heranreifen lässt, um ein aufnahmebereites, festes Gefäß für den Segen von Jupiter im Zeichen Schütze zu werden.

    Sigune als Klausnerin

    Ein verheißungsvoller Lichtschimmer fällt erneut in sein Gemüt, als Parzival mitten im Wald zu einer Klause gelangt, in der eine Klausnerin sich ganz der Entsagung von weltlichen Freuden und dem Gebet hingibt.

    Es ist seine Base Sigune, die ihrem toten Ritter und Geliebten in dieser Einsiedelei ein Grab errichtet hat. Hier lebt sie nun in ihrer Trauer dahin. Da sie sich bei Eintreffen Parzivals sehr bleich und ärmlich gekleidet von ihrem Gebet erhebt, erkennt Parzival sie nicht sogleich. Sigune weiß jedoch sofort, dass sie Parzival gegenübersteht und begegnet ihm mildgestimmt; sie ist ihm gegenüber friedlich geworden und hadert nicht mehr mit ihm wegen seines Versagens auf der Gralsburg. Parzival erfährt, dass die Klausnerin regelmäßig von dem Gral gespeist wird. Jeden Samstag erscheint die Gralsbotin Kundrie in der Nacht und versorgt sie mit allem, was sie braucht.

    Mit der Erwähnung Kundries reißt nun die Wunde des Schreckens in Parzival wieder auf. Aber jetzt haftet Kundrie nicht mehr das Stigma einer Schimpf- und Schandebringerin an, sondern sie wird dargestellt als das, was sie auch in Wahrheit ist: Spenderin von Labsal, Betreuerin der Gläubigen, also eine Göttliche Magd im Auftrag des Grals. In der Seelenlandschaft, auf der Nachtseite des Lebens, bringt sie Speise und Wohltat den Berufenen. Kein Wunder, dass Parzival dies zunächst kaum glauben kann, und er macht das Misstrauen der Frau gegenüber auch noch daran fest, dass sie einerseits allein als Klausnerin lebt, andererseits einen Verlobungsring am Finger trägt, wo doch Einsiedler bekanntlich keine Liebschaft pflegen dürfen. Aber Sigune entkräftet seinen Zweifel mit dem toten Ritter Schionatulander, dem sie sich in Treue verbunden weiß. Da erkennt Parzival, dass die Klausnerin Sigune ist.

    Wir sollten einige Atemzüge lang inne halten mit dem Verlauf der Aventüre und die Gunst der Stunde erfassen. Denn es kommt hier zu einem dritten Zusammentreffen mit Sigune. Diesmal liegt die Betonung auf dem Samstag, dem Saturntag. Jedes Mal, wenn Parzival auf Sigune traf, wendete sich danach das Blatt. Auf seinem Schicksalsweg erweist sich diese Samstagsbegegnung tatsächlich wie ein enges Tor, an dem Saturn, der Hüter der Schwelle, zu prüfen hat, ob dem Schüler aufgrund seines geistigen Reifegrades erlaubt werden darf, vor den Meister zu treten.

    Die Barmherzigkeit des Schütze-Zeichens kündigt sich an, indem Parzival sein Herz vor Sigune ausschütten darf und sich selbst und ihr eingesteht, dass er die Gralsburg zwar seit Jahren suche, sie aber bislang nicht gefunden habe. Er bekennt offenherzig, das Verlangen nach dem Gral sei sogar größer als die Sehnsucht nach Kondwiramur, seiner geliebten Gemahlin. Da wünscht Sigune Gottes Segen auf Parzival herab, damit er sein Ziel erreichen möge. Weiter empfiehlt sie ihm, Kundries Spuren nachzureiten, um den Weg zur Gralsburg zu finden. Denn Kundrie sei heute Nacht hier gewesen und habe sich dann gewiss auf den Weg zum Heiligen Gral begeben. Dankbar verabschiedet er sich und versucht die Spuren von Kundries Maultier aufzunehmen, aber die vier Hufe verlaufen sich recht bald im unwegsamen Gelände.

    Das Gralspferd und der Ritter auf Beichtfahrt

    Noch am selben Tag trifft er auf einen Gralsritter, der ihn rügt, so nahe an Montsalvat herangeritten zu sein. Das ist ein sehr erfreulicher Verweis, an dem Parzival erkennt, er muss ganz in der Nähe sein, mitten in den Wäldern von Montsalvat. Der Gralsritter fordert Parzival wegen seiner unerlaubten Anwesenheit in dieser Gegend zum Zweikampf heraus. Gesagt, getan, Parzival hebt ihn mit treffsicherer Lanze aus dem Sattel und der Gralsritter stürzt in eine Schlucht. Parzivals Pferd ist auch nicht mehr zu zügeln und stürzt mitsamt Reiter ebenfalls in die Schlucht. Das Pferd fällt ganz hinunter und wird auf dem Felsengrund zerschmettert. Es wäre wohl auch Parzivals Tod gewesen, hätte er nicht im letzten Augenblick den Ast einer Zeder zu fassen bekommen. Mühsam hangelt er sich mit den Füßen an einem Felsvorsprung wieder hoch. Oben angekommen zieht er Bilanz: Sein eigenes Pferd ist tot, aber das Gralspferd steht wohlbehalten in seiner Nähe. Auch sein Gegner lebt, Parzival sieht mit an, wie dieser den Hang auf der anderen Seite hochklettert. Das ganze Unterfangen hatte also sein Gutes, denn von nun an besitzt Parzival eine neue Weggrundlage, ein heißblütiges Gralspferd, dessen Sattel das Symbol einer Taube ziert. Parzival besteigt das edle Ross und gleicht darauf einem Gralsritter, der er freilich keineswegs ist. Hier wiederholt sich das Motiv der roten Rüstung, die er seinerzeit auch nur an sich nahm, ohne schon Ritter zu sein.

    Die hermetische Symbolik, die Wolfram von Eschenbach sauber abarbeitet, gibt uns die Analogiekette von Schütze wieder, um uns allmählich in das Zentrum des Gralsmysteriums zu geleiten: Die fromme Klausnerin Sigune, das Gralspferd und alsbald die Begegnung mit einem Ritter auf Beichtfahrt.

    Parzival ist aus dem Glauben an Gott und damit aus dem Kirchenjahr gefallen, gleichsam aus der Qualität der Zeit. Dies merkt er an der Belehrung eines Ritters auf Beichtfahrt, den er unterwegs trifft. Der Ritter hat seine Rüstung gegen ein Bußgewand eingetauscht, denn er befindet sich mit seiner Frau und zwei Töchtern auf Wallfahrt. Von ihm hört Parzival, es sei Karfreitag, und er wird getadelt, dass er zu dieser Zeit so unschicklich hochgerüstet sei. Der Tag, an dem der Herr gekreuzigt wird, gebietet die Rüstung abzulegen und Bußgewänder zu tragen. Der Ritter auf Beichtfahrt wird zum Vorposten intensiver religiöser Belehrung, indem er Parzival an diese Zusammenhänge erinnert.

    Auch die Versuchung der Welt lockt noch einmal, um seine Lust an der Sinnlichkeit zu prüfen, denn die schönen Töchter regen den Vater an, Parzival als Gast bei sich zu Hause aufzunehmen. Obwohl ihm sehr wohl auffällt wie glutrot und heiß die vollen Lippen der Mädchen sind und wie wenig entsagend diese Geschöpfe selbst am Karfreitag wirken, lehnt er dankend ab. Intuitiv weiß er, dass er sein bedeutsames Ziel aus den Augen verlieren würde, begäbe er sich in die Fangarme der beiden Schönen.

    Wie immer auf dem geistigen Weg, genau an jener Stelle, wo der Held den irdischen Freuden entsagt, ergeht der Fingerzeig in Richtung Heiligkeit. Wegen seines Haders mit Gott empfiehlt ihm der Ritter auf Beichtfahrt, den Einsiedler von Montsalvat aufzusuchen. Es ist Trevrizent, der Bruder des kranken Anfortas. Da gibt Parzival dem Gralspferd die Sporen, und es reitet tatsächlich mit ihm an die Quelle von Montsalvat, wo sich in unmittelbarer Nähe ein Höhlentrakt befindet, der Trevrizent als Klause dient.

    Die erdichteten Gewährsmänner
    im Hintergrund: Kyot und Flegitanis

    Bevor nun Wolfram von Eschenbach das große Gralsgeheimnis im Zusammensein von Trevrizent und Parzival entschleiert und damit christliches Einweihungswissen preisgibt, flicht er mit dichterischer Kunstfertigkeit seinen Gewährsmann Kyot de Provençale ein. Diesem erlegt er mühelos alle okkulten Tugenden auf, um zu vermeiden, sich bei dem zur damaligen Zeit unwissenden und bigotten Klerus auch nur ansatzweise der Ketzerei verdächtig zu machen. Von Kyot habe er den Stoff für seine Dichtung erhalten, der sie aber seinerseits von einem Heiden namens Flegitanis empfing. Flegitanis bedeutet Sternenschrift. Seine Mutter war zwar salomonischer Abstammung, sein Vater jedoch ein Heide von babylonischer Herkunft. Diese Verbindung ließ nun alles zu, was in der Kirche fehlt. Wohlbemerkt, nicht Wolfram von Eschenbach durfte den Lauf der Sterne und die dazugehörige Astrologie kennen; auch magische Einblicke in das Wesen des Grals sollte der Dichter auf keinen Fall besitzen, darum bürdet er all dies klug taktierend Kyot und Flegitanis auf.

    Des Hereinbringen des Geheimwissens geschieht hier an der richtigen Stelle, denn Trevrizent wird Parzival nun bald in das esoterische Grals-Christentum einweihen, aber dies wäre ohne Kenntnis der Astrologie, ohne Kabbalah und ohne Hohe Magie nicht möglich. Eschenbachs Offenbarungen über den Gral sind Sternenworte, wie sie nur von Eingeweihten gesprochen werden können. Initiierte Adepten unterscheiden sich von einem normalen Kirchgänger äußerlich überhaupt nicht, jedoch verfügen sie über weitaus mehr philosophische Einsicht. Die Größe einer sakralen Handlung verinnerlichen sie nicht nur gefühlsmäßig, vielmehr wissen sie bis in geheime Details, welche Mysterien hinter den Riten aller Religionsformen stehen. Aus unzähligen Weisheitsbüchern haben sie eine geistige Essenz herausgekeltert, die sie in die Lage versetzt, Inhalte zu sehen, anstatt über Formen zu streiten. In der Zeit Eschenbachs blieben viele Zusammenhänge, die dem Eingeweihten vertraut waren, den geweihten Priestern fremd, da diese allein petrinisch bewahrend arbeiteten und an der lebendigen Weisheit aus Kabbalah und Mythologie nicht teilhatten, sofern sie sich nicht aus eigener Absicht darum bemühten. Erst viel später öffnete die Kirche ihre Sinne wieder für das Wissen Arabiens und der griechischen Antike. Der Dank dafür gebührt solchen mutigen Dichtern wie Dante Alighieri, Wolfram von Eschenbach oder Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, um diese drei stellvertretend für alle anderen zu nennen, die fieberhaft im Hintergrund der Geschichte einer mächtig voranschreitenden Verknöcherung und Abstumpfung der Geistlichkeit Einhalt geboten.

    Die Stillen im Lande, die wahren Gralssucher, die größtenteils im Verborgenen wirken, haben noch zu keiner Zeit weder eine Versteinerung noch eine Verweltlichung von Kirchen, Klöstern und Orden mitgetragen. Die Bruderkette der Berufenen verändert bisweilen die Formen, wechselt sozusagen die Schabracken aus, lässt aber tradierte Inhalte grundsätzlich bestehen. In diesem Sinne sind Eigeweihte beides: petrinisch und johanneisch, also bewahrend und wissend, denn sie synthetisieren das Beste des Christentums mit dem Besten des Heidentums. Wenn sich mystische Bundesbrüder nicht an diese Tradition halten, womöglich dem Druck von niederen Ichkräften nachgeben und neben formalen Erneuerungen auch Inhalte neu definieren, dann verletzen sie den Strang, der sie mit dem “Großen Oben” verbindet. In der Folge davon fallen sie aus der Kraft und verlieren die Macht, Segen zu spenden.

    Trevrizent, der Baumheilige

    Parzival nähert sich dem Klausner. Der Name Trevrizent bedeutet Baumheiliger und kommt aus dem bulgarischen, drêvo, Baum und sent, heilig. Damit untersteht der Einsiedler einer geistigen Tradition, dient einem legendären heiligen Baum, wie ihn alle Kulturkreise kennen. Die Symbolik von Wurzel, Stamm, Krone und die Art, wie ein gesunder Baum Jahrhunderte an demselben Platz wurzelt, eignet sich bestens, um die höhere Gnosis in ihrer Beständigkeit zu umschreiben.

    Auch Trevrizent verweist ihn gleich zu Beginn auf Karfreitag und tadelt ihn, weil er an diesem Tag seine Rüstung trägt. Parzival kommt näher heran und spricht von der Begegnung mit dem Ritter auf Beichtfahrt, der ihm das gleiche vorwarf. Von Trevrizent erfährt er, es sei Kahenis gewesen, ein sehr vornehmer Edelmann, der Jahr für Jahr am Karfreitag zu ihm in die Abgeschiedenheit pilgere.

    Trevrizent hat als Einsiedler der sinnlichen Welt entsagt, er fastet die ganze Woche, und wenn er etwas zu sich nimmt, dann weder Fleisch noch Fisch, eher Wurzeln und Beeren. Außerdem lebt er im Zölibat. Aus dieser Enthaltsamkeit und aus der Heiligen Schrift speist sich sein Geist auf dem Sühneweg, zu dem er sich bekennt, seit seinem Bruder Anfortas die Wunde durch die vergiftete Lanze zugefügt wurde. Einen Teil seiner Geistigkeit wird er Parzival schenken, darum erwähnt er bei der Begrüßung fast wie beiläufig, dass Parzival seiner Liebe ein neues, erhabenes Ziel hinzufügen soll. Später könne er die Frauen (und damit meint er auch die irdische Welt) wieder lieben, aber hier in seiner Höhle ginge es um die edlere Minne.

    Bevor Parzival jedoch die Gastfreundschaft Trevrizents erfährt, gibt es noch einen Dialog, in dem wir Wesentliches über Leben und Wirken des Baumheiligen erfahren. Parzival stellt dem Einsiedler die Frage, ob er sich denn nicht gefürchtet habe, wie er als Ritter angeritten kam. Die schöne Antwort kommt ganz aus einem erhöhten Geist und gibt uns die Gewissheit, in einer geläuterten Form von Schütze angekommen zu sein: „Glaubt mir, Herr, mich haben Bär und Hirsch weit häufiger erschreckt als Menschen. Lasst Euch versichern, dass ich vor Menschen keine Furcht habe, ich bin erfahren genug im Umgang mit ihnen. Nehmt es nicht für Prahlerei, wenn ich sage, dass ich einst weder im Kampfe noch bei den Frauen zaghaft war. Ich bin noch nie ein Hasenherz gewesen und im Streit zurückgewichen. Als ich mich noch im Kampf erprobte, war ich ein Ritter wie Ihr und strebte nach hoher Minne. Nicht selten trübten sündhafte Gedanken die Reinheit meines Herzens. Ich wollte ein glanzvolles Leben führen, um die Zuneigung einer Frau zu gewinnen. Jetzt ist alles vergessen (…).“

    In diesen wenigen Aussagen wird deutlich, welche Stufe das Schütze-Prinzip im Tierkreis einnimmt. Erfahren im Umgang mit Menschen zu sein, gilt als Voraussetzung für das neunte Zeichen, wo wahre Menschwerdung das erklärte Ziel ist. “Bär und Hirsch”, dies meint Animalisches, Triebhaftes und Unerlöstes, finden hier keinen Zugang. Auch dass Trevrizent zu keiner Zeit ein Hasenherz ist, kann man gar nicht wichtig genug nehmen, denn nicht der Verweigerer von Leistung oder ein Ablehner von Fleischnahrung wird im neunten Zeichen heilig, sondern derjenige, der alles gelebt und durchlitten hat, was die vorhergehenden Tierkreisqualitäten ihm vorschreiben. Hat er die Ernte seiner Bemühung eingebracht, gibt er sie anheim, opfert sie für ein höheres Ideal jenseits seiner selbst. Der Weg des Eremiten darf niemals dort begonnen werden, wo man vor äußeren Anforderungen des Lebens flieht, niemals bevor das Leben in seinen widersprüchlichen Facetten ausgekostet wurde. Im Gegenteil können Milde und Toleranz des Einsiedlers nur die Frucht eines vollständig erfüllten Lebens sein. Wird dieses Gebot umgangen, wandelt sich jede Form von Mystik in Mystizismus, woraufhin der Strom der Erkenntnis nicht in der Civitas Dei (Mitbürgerschaft Gottes) einmündet, sondern in der Feigheit eines Hasenherzens versickert. Man bedenke hier, dass zum Beispiel ein vom Heiligen Stuhl berufener Kardinal mindestens fünf Sprachen beherrschen muss, sonst wäre er für das Kardinalskollegium eine unzumutbare Belastung. Nicht ganz so streng verhalten sich die Regeln in initiatischen Kreisen, aber auch dort kommen Hasenherzen in Schwierigkeiten, weil sie den Anforderungen nicht gerecht werden können. Anders gesagt, der Okkultist begründet seine hingebungsvolle Liebe zur kosmischen Hierarchie auf dem Fundament seines intakten Intellektes und seiner enormen Leistungsbereitschaft.

    Schließlich findet Parzival Einlass in die Höhle des Trevrizent. Weil draußen Schnee liegt, wird die Wärme von glühenden Kohlen zur Wohltat für ihn. Trevrizent entzündet eine Kerze und Parzival legt die Rüstung ab. Kerzenschein erfüllt die Klause als Symbol des erwachenden inneren Lebens. Die Glut entspricht der Feuerform, die ihn hier archetypisch empfangen muss, denn Widder ist der Funke, Löwe die Flamme und Schütze die Glut im Herdfeuer der Mysterien. Ergänzend zu den jovischen Symbolen erhält er noch ein Gewand und wird in eine zweite, dahinter liegende Höhle geführt, wo es Bücher gibt, einen Altar und einen Reliquienschrein. Parzival erinnert sich sogleich. Es ist jene Obhut, in der er einst vor Orilus von Lalande seine Unschuld Jeschute gegenüber beeidigt hat. Damals nahm er eine Lanze an sich, die er hier gefunden hatte. Trevrizent trug das Verschwinden dieser Waffe seinerzeit in das Gebetsbuch ein und kann nun sagen, dass seitdem genau viereinhalb Jahre und drei Tage vergangen sind.

    Diese Zeitangabe muss bedeutsam sein, denn Eschenbach konstruierte sein Werk überall sehr sinnträchtig. Viereinhalb ist die Hälfte der Zahl Neun, die das Symbol der Vollendung darstellt. Von der Kundrie-Begegnung bis zum Eintreffen bei Trevrizent lebt Parzival in der Zerrissenheit des Daseins, in der Sinnlosigkeit, dafür ist die in zwei Teile zerbrochene Neun ein passendes Symbol und die drei Tage “alle Zeit”, die nötig ist, eine Umkehr zu vollziehen. Um in dem Einheitsdrang der Neun anzukommen, bedarf es noch der Unterweisung von Seiten der Gralstradition durch den Baumheiligen. Arthur Schult hat folgendes herausgefunden: Am 3. April 33 ist Christus gekreuzigt worden. Setzt man voraus, dass inhaltlich jeder Karfreitag die Wiederholung dieses Tages ist, so gelangt man bei viereinhalb Jahren und drei Tagen zum 30. September. Das war der Tag nach dem Verlassen der Gralsburg, also war Parzival am 29. September, am Michaelistag, im Gralsritual und erhielt das Schwert als Geschenk am Altar des Anfortas. So ist es gleichsam ein Michaeli-Schwert. Ritter sein für den König der Könige, so lautet der Auftrag unter dem Signum des Erzengels. Wenn Parzival nun dieses Schwert gehört, steht er im geistigen Strang von Michael. Nicht zufällig verknüpft Eschenbach das Schwert mit dem Fürsten aller Erzengel.

    In der hebräischen Legende wird berichtet, wie Michael Satan vom Himmel stößt. Nehmen wir uns die Zeit, diesen Mythos anzuschauen, um die Dienstpflicht von Erzengel Michael zu verstehen: Nachdem der Allmächtige die Schöpfung beendet hatte, erteilte er allen Erzengeln den Auftrag, sie sollten Adam verehren und ihn und seine Nachkommen so führen, dass sie eines Tages in den Himmel zurückkehren könnten. Aber der Erzengel Samael widersetzte sich dieser Anordnung.

    Der Name Samael bedeutet neben dem verzehrenden Feuer Gottes auch “Gottes Gift” und diesem Kennzeichen unterlag sein Charakter. Darum blieb Samuel uneinsichtig und stolz und schrie: “Als Adam erschaffen wurde, besaß ich bereits meine vollkommene Gestalt, wie kann er über mir stehen?” Da stritt Michael mit ihm und befahl ihm Gehorsam gegenüber Gottes Weisung. Samuel aber eilte vor den Thron des Allmächtigen und klagte: “Herr der Herrlichkeit, uns Erzengel und unsere Heerscharen erschufst Du aus Deinem Glanz. Darum will ich kein Wesen verehren, das aus Staub gemacht wurde.” Aber Gott erwiderte: “Samael, bezähmt Euer Gift, denn obwohl Adam aus Staub erschaffen wurde, übertrifft er Euch an Verstand und Weisheit.” Das missfiel Samael, und er forderte einen Beweis für diese Behauptung. Gott ging mit Samael in den Garten Eden und stellte einen Ochsen vor ihn hin. Samael sollte ihn so benennen, wie Gott ihn benennt. Als der Erzengel schwieg, ließ Gott nacheinander ein Kamel und einen Esel vortreten, aber Samael konnte die Tiere nicht benennen. Da rief Gott nach Adam und ließ ihn die Tiere benennen, und Adam nannte sie alle drei bei ihrem Namen. Nun erkannte Samael, dass Gott Adam mehr erleuchtet hatte als ihn, und sein Neid erfüllte ihn mit Hass. Er begriff, die Erzengel sind eine Kraft Gottes, die Einkleidung seiner Intelligenz, aber sie sollen Handlanger seines Willens bleiben und keine eigenen Wege gehen. Dies erzürnte Samael über alle Maßen. Darum stieß ihn Gott aus dem Himmel. Noch im Sturz klammerte er sich an einen Flügel des Erzengels Michael. Michael schrie ihn an und sagte: “Gott wird stets den Thron der Stolzen stürzen, kehre um und empfinde Reue vor dem Herrn” (Sirach 10,15). Aber Samael blieb verstockt, und dem Willen des Herrn gemäß, löste Michael den Griff des Widersachers von seinem Flügel und stieß ihn endgültig aus dem Himmel.

    Samael ging in die Unterwelt ein, scharte Anhänger um sich und wurde zu Luzifer bzw. Satan, dem Anführer aller Widersacher. Mit seinem Gefolge errichtete er ein Gegenreich zum Himmel. Auch er verfügte bald über Heerscharen von Engeln oder besser gesagt von Teufeln. Voller Stolz verkündete er daraufhin, die Finsternis und die Hölle geschaffen zu haben. Noch heute strebt Satan an, die ganze Erde und sogar den Himmel zu erobern, dem allerdings Michael vorsteht, der dies nicht zulässt.

    So lautet der mythologische Hintergrund jenes Schwertes, das sich nun im Besitz von Parzival befindet. Aber er weiß weder um das Mysterium dieser Waffe noch um den damit verbundenen Auftrag, ein Streiter für Gott zu sein.

    Das Gespräch mit Trevrizent beginnt mit dem luziferischen Parzival-Wort: „Seit meinem letzten Aufenthalt an diesem Ort sah man mich nie in Kirchen oder Münster, wo Gottes Ehre gepriesen wird. Ich suchte nur den Kampf und hasse Gott von ganzem Herzen, denn er ist schuld an meiner Trübsal und hat sie so vermehrt, dass sie all mein Glück lebendig begraben hat.“ Parzival ist seit dem Tag der entsetzlichen Beschimpfung durch Kundrie von Gott enttäuscht, es passt nicht in sein naiv-frommes Weltbild, dass der gütige und barmherzige Gott ihn, wie er meint, im Stich gelassen hat.

    Nach solchen Worten kann Trevrizent nur tief und schwer atmen und versuchen, mit einfühlsamen Worten den Sinn seines Schützlings zu wandeln. Das Schütze-Zeichen ist von Ungläubigen nicht zu erobern, weshalb sie ihren Glauben wieder finden müssen, bevor die Weisheit in sie einzieht. Darum macht der Einsiedler Parzival deutlich, dass er es sei, der Gott verlassen habe, nicht umgekehrt. Der Allmächtige kann nichts dafür, wenn der Mensch während seiner Existenz auf Erden sich ein falsches Bild von ihm schafft. Trevrizent geht in seiner Belehrung bis zu Adam, Kain und Abel zurück. Indem er die Treue Gottes hervorhebt, die er schließlich mit seiner Fleischwerdung in Christus festigt, kehrt allmählich Reue in Parzival ein, und er gesteht, dass er trotz seines Glaubensverlustes den Gral seit viereinhalb Jahren suche, wohl in der Hoffnung, mit ihm auch die Gottesliebe und die Liebe Kondwiramurs wiederzufinden.

    Nun muss er von Trevrizent erfahren, den Gral hat er nicht durch bloßes Suchen finden können, menschliche Anstrengungen reichen dafür nicht aus, man kann aber aus dem Himmel zu ihm berufen sein. Artur Schult führt in seinem Buch über den Gral in diesem Zusammenhang ein Ackergleichnis an. Der Landmann vermag das Land zu bestellen, aber Regen, Sonne und Wachstum, kommen nicht von ihm. Manchmal keimt die Saat nicht oder die Frucht wird kurz vor der Ernte durch ein Unwetter zerstört. Daraus leitet der Bauer jedoch nicht ab, nie wieder säen zu wollen. Er sät immer zur gleichen Jahreszeit in erprobter Weise. Wenn der Segen von oben kommt, wird die Ernte gut. Wie sollte sie aber eingebracht werden, wenn überhaupt nicht gesät worden wäre? In ähnlicher Weise kann der Mensch auch nicht darauf verzichten, den Gral zu suchen, aber ob er ihn dann auch findet, liegt allein in der Gnade himmlischer Vorsehung.

    Die Wunderkraft des Grals

    Trevrizent sagt von sich ausdrücklich, weder Gelehrter noch Kirchenmann zu sein, aber er kenne die Bibel sehr gut. Damit kennzeichnet er sich als ein dem Klerus wohlgesonnener Mystiker. Die Mystik unter der Schirmherrschaft Johannis ist der Kirche beigestellt, um die Menschen in besondere Erkenntnisse einzuweihen, die der Priester entweder nicht preisgeben will oder nicht kann, da er selbst davon nichts weiß. Als Bruder des Anfortas gehört Trevrizent dem Gralsgeschlecht an.

    Da er ebenso ein Oheim Parzivals ist, ist auch Parzival durch seine Verwandtschaft an die Kette der Gralshüter gebunden. Somit steht dem Baumheiligen nichts im Wege, Parzival in die Wunderkraft des Grals einzuweihen.

    Bei Wolfram von Eschenbach ist der Gral ein Stein, und ganz offenherzig sprich er hier von “Tempelherrn”, die Dienst am Gral auf der Gralsburg leisten. Lapsit exillis nennt er den Stein; diese Bezeichnung ist verwandt mit dem Begriff lapis elixier, der bei den Alchemisten Lapis philosophorum, Stein der Philosophen oder Stein der Weisen, genannt wird. Synonym für den Gral verwendet, lässt dieser Stein den Phönix zu Asche verbrennen, aus der er sich zu neuem Leben erhebt. Das ist die Mauser des Phönix, und er erstrahlt danach schöner noch als je zuvor. Der Gral heilt jede Krankheit, beschert ewige Jugend, lässt sogar den Tod überwinden. Wer den Gral erschaut, stirbt eine ganze Woche nicht. Wer ihn immer wieder erblickt, altert nicht und bleibt jung und frisch. Ob Jungfrau oder Mann, wenn sie den Stein zweihundert Jahre anschauen, ergraut lediglich ihr Haar, aber Gestalt und Gesundheit bleiben unversehrt.

    Um die Segenskraft des Grals zu erneuern, senkt sich immer am Karfreitag eine himmlische Taube auf ihn herab und bringt ihm eine weiße Oblate dar. Solange der Gral mit dieser Hostie von oben gespeist wird, sichert er das Vorhandensein einer ritterlichen Bruderschaft, die dem Gral dient. Der Gral befindet sich in der Obhut dieser erlesenen Bruderschaft, so blieben die Geheimnisse des Grals über Jahrhunderte bewahrt. Jede Familie schätzt sich glücklich, wenn sie aufgefordert wird, ein Kind in die Gralsgemeinschaft zu entsenden. Aus vielen Ländern werden ihre Mitglieder geholt, in ihrem Dienst entsagen sie weltlichen Freuden, erhalten aber reichlich Lohn im Himmel.

    An dieser Stelle sollte jeder kritische Leser Vorsicht walten lassen und nicht gleich alles verwerfen, weil man sich nicht gern auf ein ungewisses Später vertrösten lässt. Wer nämlich weiß, dass dieser Lohn nichts geringeres als die Unsterblichkeit der Seelenperson ist, der freut sich auch schon zu Lebzeiten darüber, da die Unsterblichkeit des Individuums nicht angeboren ist, sondern erwirkt wird.

    Trevrizent unterrichtet Parzival weiter und gibt ihm sehr tiefegreifende Gleichnisse preis: Gott hat einst die lauen Engel verworfen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie Luzifer oder Gott dienen wollten, darum gab er den Gral an die Menschen. Sofort ergreift Parzival Partei und will für Gott streiten. Er kann sich entscheiden, er ist an das Kämpfen gewöhnt, der Himmel soll nur sagen, gegen wen er antreten soll, er wird es dann schon richten. Aber sogleich warnt Trevrizent vor einer Selbstherrlichkeit, die sich nur auf äußere Taten bezieht. Kraft, Stärke und Selbstbeherrschung allein genügen nicht, um dem Gral dienen zu dürfen. Es gehören auch Weisheit und Selbstlosigkeit dazu. Wer die Demut Gott gegenüber noch nicht fand und noch wenige Minuten zuvor sagte, er hasse Gott, sollte sich nicht erdreisten, ein Ritter des Grals sein zu wollen. Durch die Ritterlichkeit werden Anteile der Selbstherrlichkeit in den Schatten gedrängt, die sich zu unpassender Zeit den Weg an die Oberfläche bahnen. Trevrizent gemahnt daran, dass der ganze Mensch verwandelt werden sollte, will er sich dem Gral nähern.

    Auch die verdrängten Schatten müssen sichtbar werden, damit sie wie der Phönix verbrennen können und aus der Asche in das Heil erhoben werden. Er spricht hier von nichts anderem als von dem läuternden Kundrie-Segen, der im Zeichen Skorpion gegeben wird, und den Parzival so bitter erfahren hat. Kundrie sprengt als Fluchbotin stets die Krusten der Person auf, die der Seele zur Knechtschaft gereichen, und kehrt das Unterste zu Oberst. Wie auf einer Spule wird nun der Lebensfaden Parzivals abgewickelt. Woher er kommt und was er bislang getan hat. Was unbewusst geschah und damit sündig war, wird in das Bewusstsein gehoben und kann dadurch von Sünde befreit werden. Das ganze Freitagsgespräch in der Höhle fördert die Selbsterkenntnis zu Füßen eines hochgradig Geweihten.

    Der Gral wurde aus dem Karfunkel gemacht, der aus Samaels Krone brach, als dieser vom Himmel stürzte, denn der Kelch des letzten Abendmahls Christi, so heißt es, wurde aus diesem Stein geschliffen. Später fing Joseph von Arimathia das Blut Christi am Kreuz darin auf, und der Gral ging in die Hände der Gralshüter über. Erst hütete Titurel das himmlische Kleinod, dann Frimutel und Anfortas. Letzterer verliebte sich in die stolze Orgeluse, die ihm aber nicht als Frau bestimmt war. Darum verlor Anfortas seine Ehre, seine Potenz und seine Gesundheit, denn die Lanze eines Heiden traf ihn zwischen seinen Beinen.

    Das alles ist lange her, aber Anfortas konnte bislang nicht genesen. Er wartet auf einen Mann in der Blüte seiner Manneskraft, der ihm die Frage nach seinem Leid stellt, die ihn genesen ließe. Immer, wenn der Mond schwarz wird und es außerdem noch Samstag ist, erfleht der Unerlöste, der Kranke und Schwache, noch mehr als sonst das Erscheinen seines Erlösers. Und weil er nicht kommt, schmerzt die Wunde so sehr, dass nur neuer Schmerz Linderung bringt, und deshalb bohren seine Ritter silberne Messer in die Wunde, bis sie blutet.

    Der Gral könnte Anfortas heilen, aber er leuchtet nicht mehr, da der siechende Gralskönig zu schwach ist, seine Kraft und Männlichkeit voller Verehrung zu Gott in den Tempel zu tragen, wie es ihm das Amt geböte. Darum schmückt er sich mit Pfauenfedern – gleichsam als Symbol der Erlösung aus dem Zeichen des Wassermannes – und geht hinunter an den See am Fuße von Montsalvat, um zu fischen. Indessen bleibt seine Angel, die Hoffnung und blinder Glaube heißt, unberührt, als röchen selbst die Fische seine Krankheit und die verlorene Ehre. Und so wartet er, ein ohnmächtiger Menschenfischer, auf den, der mit ihm fühlt, der die Lanze wieder zu tragen vermag, mit ihrer Spitze den Kelch erfreut und ihn genesen lässt! Einmal – vor nicht allzu langer Zeit – gelangte ein edler Ritter in sein Reich; er selbst wies ihm den Weg, als er ihn am See mit der Angel traf. Die Gralskönigin, Repense de Schoye, verlieh ihm den Mantel von Purpur und Gold, und er nahm an dem Ritual im Tempel der Gralsburg teil. Aber der Ritter war noch nicht in das Mysterium eingeweiht, weshalb er weder nach seiner Krankheit fragte noch die Lanze zu seinem Heile trug. Und so leidet Anfortas noch immer und wartet auf seinen Erlöser. Trotzdem lebt noch immer Zuversicht in ihm, denn die Bruderschaft konnte im Gral lesen, dass es eines Tages die Frage nach seinem Leid sein würde, die ihn genesen ließe.

    Da fallen endlich ganz und gar die Schleier von den geistigen Augen Parzivals. Nun begreift er, welche Bestimmung die Seine ist. Sein Name, Parzival, kein anderer Name steht im himmlischen Gral geschrieben. Er ist der Berufene, auf den Montsalvat alle Hoffnung setzt. Er soll nach dem Leid fragen. Jetzt, da er die Hintergründe besser kennt, wo er, gedrängt durch Leid und Zweifel, sein Schuldbekenntnis in Gegenwart heiliger Bücher und eines Reliqienschreins vor einer hierophantischen Instanz abgelegt hat, wird es für Parzival nun bald Ostersonntag werden. Er weiß, der Gral ist mit dem Seitenblut Christi gefüllt, um den Neuen Bund zu schließen. Die Taube bringt den Heiligen Geist herab, erfüllt das Blut im Kelch damit und verströmt ihn in Kirchen und Tempel, die den Geist Christi atmen. Parzival selbst ist als Mensch durch seine Taten in Zeit und Raum nicht rein geblieben, aber er kann durch den Segen des Grals wieder rein werden. Der Gral mag für den Ungeweihten, der die Kentnisse des neunten Zeichens noch nicht empfangen hat, von höchst rätselhafter Natur sein, aber mit der Barmherzigkeit Jupiters erschließt sich das Geheimnis. Wo menschliches Staunen an der Pforte der Gralsfragen: „Was ist der Gral? Wem dient der Gral?“ in Ehrfurcht verstummt, erblühen dem Geweihten die Antworten und verheißen ihm die Ewigkeit.

    Artikel, erschienen in Pleroma
    Nr. 20, April-Juni 2005





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